Miniaturen: Vom Verlangen, berührt zu werden. Eine Initiative der Gemeinde “de Vrijburg” in Amsterdam
Miniaturen: Vom Verlangen, berührt zu werden
Von Christian Modehn
Die Gemeinde der Remonstranten in Amsterdam „de Vrijburg“ kooperiert mit den „Freisinnigen Protestanten“ innerhalb der Protestantischen Kirche der Niederlande. Diese Gemeinde hat seit Herbst 2020 täglich kurze Meditationen, Impulse, Anregungen publiziert als podcasts, die jeder abonnieren kann. Sie stehen unter dem Titel „Vom Verlangen, berührt zu weren“. Dik Mook von der Remonstranten Gemeinde hat diese Initiative koordiniert unter dem Titel „Vrijzinnige Miniatuuren“. Christian Modehn wurde eingeladen, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Seine kurzen Miniaturen wurden aus dem Deutschen von Dik Mook übersetzt.
Drei „vrijzinnige Miniatuuren“ auf Deutsch (in niederländischer Sprache siehe: https://www.vrijburg.nl/vrijzinnige-miniatuur-64/)
1.Zu spät?
„Es ist schon zu spät“. Ich muss gestehen, dass mich diese Erkenntnis seit langem bewegt: „Es ist zu spät, um die drohenden Katastrophen abzuwenden“. Ich bin kein Apokalyptiker und kein Freund des „Alarmismus“. Zwar wollen uns populistische Ideologen und ihre Politiker beruhigen und verkünden: „Alles halb so schlimm“. Tatsache aber ist: Den verheerenden Klimawandel gibt es wirklich. Ebenso die gezielte Vernichtung des Amazonaswaldes! Eine Tatsache sind auch die menschlichen Katastrophen, die neoliberale Finanzjongleure etwa für die Armen vor allem seit Jahrzehnten verursachen. Gegen die „Corona-Pandemie“ wird es wohl bald einen Impfstoff geben, mindestens für uns im privilegierten Europa. Gegen die genannten Katastrophen wird es keinen Impfstoff geben!
Wer heute als nachdenklicher Mensch und als Christ leben will, muss sich jetzt mit dem Spruch „Es ist schon zu spät“ auseinandersetzen. Und neue Erkenntnisse gewinnen: Ich kann mich nicht nur um meine kleine Welt sorgen und meinen privaten, angeblich „unpolitischen“ Lebenssinn suchen. Nein! Die Frage nach dem Sinn meines/unseres Lebens muss heute erweitert werden: Wie kann ich, wie können wir, trotz der Katastrophen, als EINE Menschheit weiterleben?
Ich darf mich also nicht dem populären Spruch „Es ist zu spät“ hingeben. Wenn ich dem folge, gerate ich schnell in den Fatalismus, in die totale Passivität. Dann haben all die Ideologen, die Leugner der genannten Katastrophen, gesiegt. Und dann tritt die Katastrophe wirklich sehr bald ein.
Die gültige Erkenntnis heißt: Noch sollte jeder und jede, nach den eigenen Möglichkeiten und Begabungen, an einem konkreten Projekt, retten, was noch zu retten ist. Und: Ich darf die Menschen nicht allein lassen, die schon seit einigen Jahren gegen die Klimakatastrophe Widerstand leisten. Es sind so viele junge Menschen, auch in „Fridays For Future“, die jetzt Solidarität brauchen von Älteren und ganz Alten.
Die Welt, die ich/wir den jungen Menschen hinterlassen, ist die von uns gemachte Welt! Es ist auch eine Welt der (von uns) bewusst zugelassenen und von uns gemachten Katastrophen. Geschrieben am 26.9.2020
2.Menschen sind Miniaturen
Kürzlich habe ich in meinem Bücherschrank eine Miniatur entdeckt. Sie hatte sich dort „versteckt“, umgeben von Fotos und Kunstkarten. Miniaturen sind kleine Gemälde, sie waren beliebt im 19. Jahrhundert bei Porträtmalern. Meine Miniatur zeigt den dänischen Philosophen Soren Kierkegaard als jungen Mann, gemalt von seinem Cousin. In dem winzigen Porträt ist Kierkegaard als Mensch ganz präsent: Die hohe Stirn, die gut gepflegten dichten Haare, die sinnlichen Lippen, die Augen, die den Betrachter fast durchbohren, als ob sie die Frage stellen. „Was soll ich dir sagen? Du weißt ja, ich bin in der Liebe leidenschaftlich und im christlichen Glauben radikal“.
Die Kierkegaard Miniatur wird heute als ein Souvenir in Dänemark verkauft, wie eine winzige Ikone findet sie schnell ihren Platz, auf dem Schreibtisch, im Bücherschrank (aber vor den Büchern platziert!) oder an der Wand neben vielen anderen kleinen Gemälden und Fotos. Unser Freund Rolf hat eine kleine Galerie von Miniaturen in seinem Wohnzimmer, Kierkegaard ist dabei und Voltaire, aber auch kleine Fotos von Bert Brecht, Hannah Arendt oder Mahatma Gandhi. „Diese kunstvollen Miniaturen sind für mich Symbole“, sagt er, „ich habe Menschen unterschiedlicher Lebensformen sozusagen ständig vor Augen“.
Wenn ich längere Zeit diese Miniaturen-Wand bei Rolf betrachte, möchte ich am liebsten die dargestellten Personen miteinander ins Gespräch bringen. Hat die Religionskritik von Kierkegaard mit der Religionskritik von Brecht etwas Gemeinsames? Gandhi erinnert mich an seine berühmte Erkenntnis: “Jesus Christus gehört nicht nur den Christen, nicht nur den Kirchen, sondern der ganzen Welt“. Beim Betrachten der Galerie der Miniaturen gelange ich in die Spiritualität der Freisinnigen, der freien Geister… Gandhi als Freisinniger, warum nicht?
Ich bin von Miniaturen begeistert, sie zeigen: Menschen brauchen keine herrschaftlichen, riesigen Porträts oder monumentale Denkmäler. Wir Menschen sind in Wahrheit nur Miniaturen… aber geliebte Geschöpfe des Unendlichen und Ewigen. Geschrieben am 30.10.2020
3.Warten. Wachsam bleiben.
Wir warten auf den Corona-Impfstoff, für uns und die ganze leidende Menschheit. Warten und Wartenkönnen: die Tugend in Zeiten der Pandemie. Und nun haben die vier Wochen eines spirituellen, christlich geprägten Wartens begonnen: „Advent“ bedeutet: Warten auf die Ankunft einer heilen Welt. Advent ist also eine Zeit des Ausschauhaltens, der Sehnsucht.
Die spannende Frage: Worauf warte ich eigentlich in diesem Advent? Es gibt ein dringendes Verlangen: Dass Licht und Klarheit endlich mächtiger werden als Dunkelheit und Verwirrung, Menschlichkeit soll stärker sein als Hass. Gegen den Wahn der Egoisten und Machtbesessenen hat Jesus als Mensch gekämpft. Seine Weisheit heißt: Die Menschen sollten „aufwachen“ und immer „wachsam – Sein“. Junge Frauen hat Jesus verurteilt, weil sie im entscheidenden Moment nicht wachen wollten, also bei klarer, kritischer Vernunft bleiben konnten. Dieser Advent also sollte eine Zeit des Wachsamseins werden. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ heißt eine Kantate von Johann Sebastian Bach, immer wieder gesungen in der Advent -Zeit. Aber wie oft wir diesen Choral gehört oder gesungen und sind trotzdem im Dämmerzustand geblieben?
Der spanische Maler Francesco de Goya (1746 – 1828) hat die Probleme der Menschen klar gesehen: Eine seiner provozierenden Miniaturen trägt den Titel „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Goya nannte diese berühmte Radierung aus dem Jahr 1797 „Capricho“, also „Einfall“. Sein Bild zeigt einen Künstler, der bei Tage, während der Arbeit, eingeschlafen ist, seine Vernunft „ruhen“ lässt: Dann werden die Ungeheuer lebendig, schreckliche Tiere, böse blickend, gefährlich.
Meine Herausforderung im Advent 2020: Die Vernunft darf niemals schlafen. Denn nur die Vernunft kann Wahres und Gutes von Lüge und Bösem unterscheiden. Nur die Vernunft führt zu dieser Evidenz: „Menschenrechte sind oberste Norm“. Aktuell leide ich furchtbar: In Deutschland verursachen immer mehr Rechtsradikale, auch in der AFD, unsere Demokratie zu zerstören. Die Nationalisten, die Nazis, sind wieder da. Auch anderswo.
Meine Überzeugung: Für einen freisinnigen Christen kann es keine politische „Neutralität“ geben.
Vernunft und Empathie sind die größten Geschenke Gottes an die Menschheit, Geschenke des Ewigen, den viele als ihren „Schöpfer“ verehren. Geschrieben am 22.11.2020