Was wird normal sein „nach Corona“?

Im Blog der Remonstranten-Gemeinde „de Vrijburg“ in Amsterda, publiziert am 8.5.2020. Dieser blog steht unter dem Motto: „Liefde in tijden van corona“

Was wird normal sein nach Corona?

Von Christian Modehn, Berlin

Die Stunde des Übergangs vom Licht des Tages in die Dämmerung des Abends liebe ich besonders. Wir nennen diese Stunde in Deutschland „die blaue Stunde“. Jetzt habe ich Zeit, diese langen Momente der Verwandlung zu genießen.

Die blaue Stunde verbringe ich am liebsten auf dem Sofa. Ich lese nichts, ich höre keine Musik. Ich schließe die Augen, alles ist still. Aber ich will überhaupt nicht schlafen. Denn nun ist die Zeit der Tagträume gekommen. Und da muss der Geist wach sein. Irgendwie fühle ich mich dann wie ein gehorsamer Schüler des Philosophen Ernst Bloch: Er hat – wie Sigmund Freud – die Tagträume als Bilder des Zukünftigen über alles geschätzt. „Tagträume sind der Vorschein von möglichem Wirklichen“, ein Bloch-Zitat, das man nicht vergisst. Das Schöne ist, dass man sich an seine Tagträume erinnern kann, anders als bei den Träumen zur Nacht, die uns so schnell entgleiten.

Mein Tagtraum gestern war ein vernünftiges „Spiel“ mit dem Wort normal. Und dieses „Spiel“ lebt von Fragen, die ich einfach zulassen musste, selbst wenn sie provozierend sind.

Ich fragte mich: Ist meine Ruhe jetzt hier auf dem Sofa normal? Ich musste trotz Corona sagen: Ja, diese Zeit des Nachdenkens und der Phantasie, ist normal, nämlich menschlich. Und ich dachte voller Abwehr an die Zeiten, als ich von einem Termin zum anderen hetzte und für mich und andere so wenig Zeit hatte.

War also die Zeit vor Corona, normal? Ich dachte: In mancher Hinsicht war sie gut, war sie auch schön, wenn ich etwa an das herzliche Miteinander unter uns denke. Aber war unsere Gesellschaft normal, was die von Menschen erzeugte Klima – und Umwelt-Katastrophe angeht? War sie normal in ihrem Umgang mit den Flüchtlingen, auch auf Lesbos oder in Libyen? War sie normal, was die eigentlich akzeptierte Spaltung in Reiche und Arme, Essende und Hungernde, angeht? War sie normal, als sich Menschen umbrachten, bloß weil sie einen unterschiedlichen Glauben an Gott hatten?

Ich stoppte erst mal diese Fragen, weil ich antworten musste: Nein! Diese „alte“ Welt, „vor Corona“, war nicht normal.

Und ich gönnte mir eine Denk-Pause… Aber bald ging der Tagtraum als „Vorschein von möglichem Wirklichen“ wieder drängend weiter: Soll diese „alte“ Welt der Klima-Katastrophen, der permanenten Kriege, nach Corona wieder so weitergehen?

Ich hatte mich vom Sofa erhoben und rief ein lautes Nein in die Stille der Wohnung. Mein Mann blickte mich erschrocken an. Ich versuchte mich zu erklären: „Wir sollten alles tun, dass das alte Normale NICHT wieder zum neuen Normalen wird“. Und er sagte, leise, in die Stunde des abnehmenden Lichtes blickend: „Wollen das unsere Politiker? Will das die große Mehrheit der Bevölkerung? Und wer tritt für eine neue humanere Welt jetzt ein, für die Zeit nach dieser Corona-Pandemie?“

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