Glauben ohne Dogma
Die Remonstranten – eine freisinnige protestantische Kirche
Eine Reportage von Christian Modehn, aus dem Jahr 2009! Gesendet im NDR am 5. Juli 2009.
Vorbemerkung:
Angesichts des zunehmenden Fundamentalismus und der machtvollen Klerikalisierung in sehr vielen großen christlichen Kirchen ist es wichtig, auf eine Kirche der ganz besonderen, der ganz anderen Art aufmerksam zu machen: DIE REMONSTRANTEN.
Sie gehören in Holland zu einem breitem Strom freisinniger Christen, sie haben das kulturelle Klima der Niederlande entscheidend mitgeprägt. Sie halte nichts von Ketzerprozessen und ausgetüffelten dogmatischen Fragen, nichts von Hierarchien und allmächtigen Priestern, Bischöfen und Päpsten.
Die Remonstranten sind eine demokratische Kirche. Leider sind sie in Deutschland viel zu wenig bekannt, für viele Anhänger katholischer Reformbestrebungen würde sich z.B. hier eine echte Alternative bieten…
Im folgenden leicht veränderten Text der Radiosendung, die nur einige wesentliche Aspekte der Remonstranten darstellen kann, aufgrund der Kürze der Sendezeit.
Siehe auch die schöne preisgekränte website: www.remonstranten.org Dort auch ein Hinweis auf die einzige Remonstranten Gemeinde in Deutschland, in Friedrichstadt.
Der Besucher ist leicht irritiert: Befindet er sich in Holland oder in Deutschland? Die Grachten mit den alten Giebelhäusern, den Holz – Bänkchen und Rosenstöcken vor der Tür, all das weckt das Gefühl, in Amsterdam zu sein. Dabei sind wir in Friedrichstadt, in Schleswig Holstein, zwischen Heide und Husum gelegen.
2. 500 Menschen leben hier.
Atmo auf Schiff,
Die Stadt ist von Wasser umgeben, im Norden grenzt sie an den Fluss Treene.
…. auf dem Boot….
„Ich möchte euch alle begrüßen an Bord hier zu unserer gemeinsamen Grachtenrundfahrt“.
„Jetzt fahren wir auch an einer sehr schönen Gracht vorbei, das ist der Mittelburggraben, den wir werden wir noch reinfahren und durchfahren. Friedrichstadt selbst wurde im Jahren 1621 von unserem damals noch sehr jungen Herzog Friedrich III. von Schleswig gegründet und gebaut.
In einem reich geschmückten Giebelhaus am Mittelburg-Graben ist das Stadtmuseum untergebracht. Am Eingangstor, auf einem Wappen aus Stein, ist ein Spruch aus alten Zeiten nicht zu übersehen.
„Dem tapferen Mann wird jeder Boden zur Heimat“.
Ein Flüchtling hat seinem Lebensgefühl Ausdruck gegeben, als er das Haus im Jahr 1626 baute: Adolph van Wael musste wegen seines Glaubens die holländische Heimat verlassen. Denn er hatte mit seinen Freunden die Freiheit des Menschen leidenschaftlich verteidigt. Davon wollten die strengen Anhänger des Reformators Calvin nichts wissen. Sie waren überzeugt, Gott habe das Leben eines jeden Menschen seit ewigen Zeiten vorher bestimmt. Dagegen sprachen die „freisinningen“ Christen ihre „Remonstrance“ aus, d.h. ihre Beschwerde“. Sie nannten sich deshalb seit 1621 „Remonstranten Kirche“. Holland verweigerte diesen Christen anfangs das Aufenthaltsrecht, berichtet der Mitarbeiter im Stadtmuseum, Holger Vogt:
„Und diese Geschichte ist dann von dem Herzog Friedrich III. ausgenutzt wurden, er wollte hier eine Handelsstadt gründen, um an Steuergelder zu gelangen. Es war nämlich damals so, dass die ländliche Bevölkerung keine Steuern bezahlen musste, sondern nur die städtische. Und aus diesem Grund wollte er eine Handelsstadt gründen, durch Verbindungen nach Holland kam er auf diese Remonstranten und hat denen hier Glaubensfreiheit und noch einige andere Privilegien angeboten. Die Remonstranten haben mit dem Aufbau der Stadt begonnen nach holländischem Vorbild praktisch“.
Holger Vogt ist Mitglied der Remonstranten Gemeinde. Sie besteht seit der Gründung der Stadt ohne Unterbrechung. Vom Stadtmuseum sind es nur wenige Schritte zum Marktplatz.
An der Gracht plaudern die Leute, Radfahrer winken einander zu, eine typische Kleinstadt, möchte man meinen. Aber sie ist doch anders, betont Hellmuth Rabach, auch er ist Remonstrant:
„Normalerweise steht am Marktplatz die Kirche, und wenn sie bei uns auf den Marktplatz gehen, steht da nur das Rathaus, und die Kirchen gruppieren im Ort. Das ist ganz bewusst so gemacht, um nicht irgendeiner Kirche hierein besonderes Merkmal zugeben. Das ist ja auch schon ein toleranter Gedanke, dass keine Kirche die andere dominiert“.
Deswegen bauten die holländischen Stadtgründer ihre eigene Kirche im Jahr 1624 eher an den Rand der Stadt, berichtet Holger Vogt:
„Die Remonstranten haben sich auch immer dafür eingesetzt, dass andere Glaubensgemeinschaften hier in Friedrichstadt neben ihnen leben konnten. Deswegen gab es auch Juden hier, Quäker, Mennoniten, na ja alle möglichen Glaubensgemeinschaften, die es damals gab, kamen hier nach Friedrichstadt, weil sie hier eben einigermaßen Glaubensfreiheit ausleben konnten, durch die Remonstranten auch“.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Kirche in Kriegswirren zwischen Schleswig und Dänemark zerstört. Aber sofort wurde ein neues Gotteshaus im klassizistischen Stil gebaut, der Architekt musste einen Grundsatz respektieren:
„Die neue Kirche soll bewusst klar, hell, schlicht, offen und frei sein“.
…Orgelspiel…
In der Kirche können etwa hundert Menschen bequem Platz finden. Einen Altar gibt es hier nicht, bei Abendmahlsfeiern wird ein Tisch bereit gestellt. Alle Blicke sollen sich auf die Kanzel hin konzentrieren, Hellmuth Rabach kann hier seine Spiritualität leben:
„Sehen Sie, wir haben keine Bilder, wir haben kein Kreuz in der Kirche. Und das ist mit Bewusstsein, weil wir wollen niemanden dazu zwingen, dass er irgendwelche vorgeprägten Vorstellungen habe. Jeder bitte mit Gott und sich“.
Im unteren Teil der Kanzel wurde ein Relief eingefügt, das einzige „Bild“ in der Kirche. Es zeigt eine Frauengestalt, die auf die Bibel weist. Und über allem erscheint eine phrygische Mütze, sie ist das Symbol der Freigeister, berichtet Heinrich Mannel:
„Es ist so auch ein Zeichen des Humanismus und dieses Symbol der Freiheit drückt auch unsere Auffassung von Glauben aus und sie hat auf einen Ölzweig auf die aufgeschlagene Bibel gelegt und dort ist der Vers von Johannes aufgeschlagen: Ihr sollt euren Nächsten lieben, wie ich euch geliebet habe. Ich denke, das ist so der Kern der Remonstranten“.
Gleich hinter der Kirche werden seit altersher die Toten bestattet:
„Wir haben ja auch auf unseren Friedhof einen Teil für katholische Gräber. Als der katholische Friedhof belegt war, fragten die Katholiken bei den Lutheranern, weil die einen großen neuen Friedhof hatten vor der Stadt, ob sie ihre Toten da beerdigen könnten. Da haben die Lutheraner gesagt, die wollten keine Papisten auf ihrem Grund haben. Und dann seitdem haben die Katholiken ein Gräberfeld hier bei unserer Kirche. Und wir haben auch gebimmelt für die Katholiken, wenn die Fronleichnam oder sonst was hatten“.
Der Kirche gegenüber ist das Gemeindehaus, der zentrale Treffpunkt der 170 Remonstranten von Friedrichstadt. Die Gemeinde ist bis heute in Deutschland einzigartig: Sonst ist die Remonstranten Kirche nur in den Niederlanden anzutreffen. Aber die kleine Gemeinde an der Nordsee braucht sich wohl keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen: Hellmuth Rabach:
„Aus dem Grundgedanken der Toleranz fühlen sich viele von unserer Kirche angesprochen. Und 20 bis 30 Prozent unserer Gemeindemitglieder sind unserer Kirche beigetreten, weil sie sich hier besser wieder finden. Ursprünglich war ich Lutheraner, habe auch als 16, 17 Jähriger mal überlegt, ob ich auch Pastor werden sollte. Das, was mich hier begeistert, ist eben, dass jeder seine eigenen Vorstellungen , die er seinen Glaube sieht, zum Ausdruck bringen kann, und auch darin nicht behindert wird. Ich glaube an Gott, so, das ist für mich völlig klar. Ich glaube auch an Jesus Christus, aber mit der Auferstehung hätte ich so mein Problem“.
Diese individuelle Glaubenshaltung wird von den Remonstranten nicht nur geduldet, sie ist erwünscht! Oberster Grundsatz ist: Kein Gemeindemitglied darf auf ein allgemein gültiges Glaubensbekenntnis verpflichtet werden. Für Ketzerverfolgung gibt es keinerlei Anlass. Lediglich an einem sehr offen formulierten Grundsatz sollten sich alle Mitglieder orientieren, Jürgen Barth kennt diesen einen Satz auswendig:
„Die Remonstrantische Kirche ist eine Glaubensgemeinschaft, die verwurzelt ist im Evangelium Jesu Christi und, getreu ihrer Grundsätze von Freiheit und Toleranz, Gott ehren und dienen will“.
Gott lässt sich für diese „freisinnigen“ Christen in keiner dogmatischen Formel festschreiben. Darum bleibt es jedem „Remonstranten“ selbst überlassen, wie er denn Gott persönlich deutet, als Vater oder Mutter, als den Ewigen oder höchstes Sein:
„Glauben ist etwas, was sich entwickelt, was wachsen kann, was immer im Leben überprüft wird, und deswegen kann es aus remonstrantischer Sicht keinen Glauben geben, der für jeden gleich ist, und es kann keinen Glauben geben, der einmal fixiert ist und sich dann nicht mehr ändert“.
Um das richtige Leben geht es, nicht um eine angeblich ewige Wahrheit. Das findet Klaus Richter so wichtig:
„Auch immer wieder sich selbst in Frage zu stellen, ist das richtig, das ist wichtig. Man sitzt eben als freier Mensch auch mit sich selbst da, und ist auch mit sich selbst sehr stark im Gespräch, und das nimmt einem keiner ab. Die Verantwortung für das, was man tut und was man ist, nimmt einem keiner ab. Das hält ja auch wach“.
Die Remonstranten könnte man eine ethische, eine dem Humanismus verpflichtete christliche Kirche nennen. Sie will das Nachdenken fördern, das besinnliche Gespräch. Auf volkstümliche Formen der Frömmigkeit sind Remonstranten nicht angewiesen: Klaus Richter:
„Ich habe einmal in Weingarten in der Kathedrale eine Nacht erlebt und dann die große Blutprozession mit 6000 Reitern. Das haut einen um, und als dann nach anderthalb Stunden in der Mitte des Zuges die Monstranz kam und alle in die Knie gingen, dann ging auch ein guter Protestant wie ich in die Knie. Ich versteh das schon, das sind rauschhafte Zustande, aber ich war nicht bei mir selbst. Ich kann das verstehen, dass es Menschen gibt, die darauf reagieren und das gut finden. Aber wenn man einen Augenblick klar darüber nachdenkt, dann merkt man, dass ich einen ganz großen individuellen Freiraum brauche, das erfüllt mit Sinn“.
Von den 170 Gemeindemitgliedern leben nur 100 in Friedrichstadt selbst, vor allem die jüngeren Mitglieder können nur außerhalb ihrer Heimatstadt Arbeit finden. Aber alle sind berechtigt, die Gemeindeleitung zu wählen, berichtet Hellmuth Rabach.
„Die Gemeinde verwaltet sich ja selber, wir haben kein Büro, das ist alles ehrenamtlich Tätigkeit, die Leitung der Gemeinde wird alles zum Nulltarif erbracht. Das einzige, was sich die Gemeinde sich leistet, ist das Gemeinde -Haus, die Kirche und dann einen Küster und einen Pastor, einen teilzeit beschäftigten Pastor“.
Und der Pastor kommt aus Holland angereist: Einmal im Monat, jeweils von Donnerstag bis Montag, steht er für Beratung, Unterricht und Gespräche zur Verfügung, sonntags leitet er den Gottesdienst.
Glocke, …..
Christen aller Konfessionen sind eingeladen, auch Skeptiker, Suchende, Ungläubige sind ausdrücklich willkommen.
Zu Beginn des Gottesdienstes wird Pastor Severien Bouwman vom Kirchenvorstand in die Kirche geleitet und im Mittelgang per Handschlag zur Predigt beauftragt!
Lied, O heiliger Geist…
Auf der leicht erhöhten Kanzel hat der Pastor Platz genommen. Der Gottesdienst ist nüchtern und schlicht, immer wieder gibt es Augenblicke für stille Meditation. Die Gebete des Pastors sind so offen formuliert, dass sich möglichst viele darin wieder finden.
„Lieber Gott, wir kommen zu Dir mit unserem Gebet in der Hoffnung auf alles, was das Leben sein kann. Was es an Gutem geben kann in aller Entwicklung und Entfaltung, in aller Fähigkeit und innerer Kraft, in der Begegnung mit Menschen, aber auch in einem fruchtbaren Alleinsein.
Sei bei uns Gott, damit wir deine Menschen sind. Amen“.
Pastor Bouman verwendet auch in seinen Predigten niemals fromme Floskeln und erbauliche Sprüche. Auf die praktische Lebensorientierung kommt es an:
„Wir leben in einer Zeit, wo es viele gibt, die den Geist nicht nötig haben, den Geist Gottes, der uns spüren lässt nach dem Geheimnis des Lebens und nach demjenigen, was uns Menschen wirklich inspiriert. Der Geist Gottes, der sehen lässt, was wirklich notwendig ist im Leben und kritisch macht sowohl über uns selbst und über alles, was in der Welt passiert. Diesen Geist Gottes haben wir immer noch nötig. Amen.
23. Orgel Intermezzo
Die Remonstranten Kirche ist Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen in Genf. Wegen ihrer Offenheit und Toleranz wird sie allerdings oft als „ein seltener Paradiesesvogel“ bezeichnet… Auch ein Pastor kann hier seine Aufgabe viel freier gestalten als in anderen Konfessionen, erklärt Severien Bouwman:
„Das ist wichtigste ist, dass man nicht Inhalte vermittelt, sondern die Möglichkeit bietet, um nachzudenken, selber zu suchen, was wichtig ist im eigenen Leben und im Verhältnis mit anderen Leuten. Wie man eigentlich das eigene Leben macht.
Wenn ich eine Predigt halte, sage ich nicht: Sie müssen so und so glauben. Aber: Sie können so und so glauben. Es gibt keine Wahrheit, die ich schon wusste und dann ausspreche, sondern ich suche die Wahrheit auf einem bestimmten Moment und für bestimmte Leute, versuche beizutragen, wie sie leben können. Die Fragen öffnen Zukunft und Lebensmöglichkeiten“.
Die Gottesdienstteilnehmer kommen zu Kaffee und Tee im Gemeindehaus zusammen. Der Besucher ist etwas überrascht, dass sich diese modernen Christen noch an die klassische Gottesdienstordnung halten und auch die alten Kirchenbänke noch benutzen. Die Gemeindevorsitzende Petra Kühl will diese Bedenken entkräften:
„Für die Gemeinde hat das große Bedeutung, also auch eben dieses Gestühl, dass man beim ersten Lied steht. Und für mich ist kein freier Gottesdienst oder kein Freiheitsgefühl, wenn wir da im Kreis sitzen oder ob ich eben in diesem alten Gestühl sitze. Und es ist im Unterschied zu anderen Kirchen sogar auch wiederum relativ frei wiederum, dass ja bis der Pastor kommt dann auch immer geschnackt wird und gelacht wird und getan. Während das ja in manchen Kirchen anderer Konfession nicht möglich ist. Da ist ja in dem Moment, wo man das Kirchengebäude betritt dann auch Stille, also insofern finde ich nicht, dass der Rahmen so streng ist“.
Für Pastor Bouman ist entscheidend, wie sich der Geist von Offenheit und Toleranz in der Praxis äußert. Und da sind die Remonstranten wegweisend: Sie haben z.B. in Holland schon vor vielen Jahren begonnen, homosexuelle Paare in aller Öffentlichkeit der Gemeinde kirchlich zu segnen:
„Das ist überhaupt kein Problem. Wir machen keinen Unterschied mehr. Schon lange. In Holland habe ich verschiedene Leute gesegnet, Hochzeit gemacht, ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass wir als erste Kirche überhaupt das gemacht haben. Es wurde nicht von allen Kirchen geliebt. Dennoch. Das ist etwas, was voll und ganz und ganz realisiert ist“.
Großzügig sein, ein Grundsatz der remonstrantischen Kirche. Er gilt auch für die Solidarität mit Menschen in Not, berichtet Franz Wauschkuhn:
„Heute war ja die Kollekte für die koptischen Christen in Ägypten, das sind ja Menschen, die heutzutage verfolgt werden. Man hat im Westen immer den Endruck, dass Ägypten ein tolerantes Land ist, in Ägypten ist die Scharia wieder eingeführt worden. Wir versuchen mit ganzkleinen Mitteln, die wir hier zusammen kriegen, solchen Menschen zu helfen. Wir haben hier auch Kopten, die in unsere Gottesdienste kommen, also ein ganz konkretes Projekt“.
In Friedrichstadt sind heute mehrere Konfessionen vertreten. Die Gemeinde der Wiedertäufer, Mennoniten genannt, sowie Katholiken und Mitglieder der Dänischen Kirche. Am größten ist die Lutherische Gemeinde. Sie hat gute ökumenische Beziehungen auch zu den Remonstranten, selbst wenn es manchmal Probleme gibt, erklärt Pastor Michael Jordan.
„Ich bin 8 Jahre hier, und da gab es durchaus Eintritte bei den Remonstranten, da sage ich, OK, die Leute bleiben wenigstens in der Kirche, obwohl sie dann die Konfession wechseln. Auf der anderen Seite tut es um jeden, der die evangelische, die lutherische Kirche und unsere Kirche verlässt. Ich sag mal von außen ist es für liberale Geister attraktiv, eine Kirche zu haben, die doch sehr humanistisch und offen orientiert ist, die keine Dogmen kennt. Und da gibt es sicherlich Attraktionen, weshalb man dann hinüber geht.
Allerdings ist die Lutherische Kirche heutzutage auch nicht eine Kirche, die das Dogma voran trägt und du hast es zu glauben, friss oder stirb. Also das ist ja einfach nicht mehr so“.
Lutheraner und Remonstranten treffen sich regelmäßig, z.B. zu Vorträgen und Diskussionen. Eine Gruppe hat sich kürzlich mit Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ befasst und angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen über Toleranz diskutiert. Wenn so viele Fundamentalisten heute die Intoleranz propagieren, wie sollen sich da die Remonstranten verhalten? Anke Richter Teubler:
„Meine Kritik an einem oberflächlichen Toleranzbegriff ist der, dass er völlig a- politisch und letztlich unmenschlich ist. Weil es der Toleranzbegriff ist, der das hohe Ideal der Achtung verrät, verkauft an eine Haltung, die wir alle immer kritisieren in allen Medien, nämlich die des Wegguckens, dann sind wir auch tolerant, nichts zu machen. Und das darf nicht sein. Also da werde ich scharf. Und jede Toleranz hat ihre Grenzen. Auch die aktive Toleranz, die sich wirklich um Verständnis um Auseinandersetzung und Dialog bemüht, auch die kommt irgendwann zwangsläufig an den Punkt: wo sie sagt. Stopp: Weiter mit mir nicht. Keine Verhandlung mehr möglich, bewege du dich jetzt, auch das gehört zur Toleranz. Also Friede, Freude, Eierkuchen, das ist keine Toleranz, das ist eine ganz bescheuerte Beliebigkeit. Das heißt: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Respekt“.
Glocken, Dom in Utrecht
Die Glocken der mittelalterlichen Domkirche zu Utrecht in Holland, Erinnerungen an eine Zeit, als die Religion noch den Lebensrhythmus der Menschen bestimmte. Hier in Utrecht haben die Remonstranten in einem kleinen Grachtenhaus ihr zentrales Büro untergebracht.
Zur Kirche gehören in etwa 40 Gemeinden 10.000 Mitglieder und assoziierte Freunde. Angesichts einer zunehmenden Vorliebe für traditionelle und auch fundamentalistische Überzeugungen wollen sich die Remonstranten als freie, liberale Geister noch deutlicher behaupten: Sie halten nichts davon, die Kirche zu verklären oder gar mit einem Heiligenschein auszustatten, betont der Generalsekretär der Remonstranten, Pastor Tom Mikkers:
„Das Christentum hat sich die ersten 1500 Jahre in einem Institut, in der Kirche, und gesagt: Gott wohnt in diesem Institut. Dann kam die Reformation und hat gesagt: Er wohnt nicht im Institut Kirche, denn das gibt zu viel Machtmissrauch, er wohnt jetzt in der in einem Buch, in der Bibel. Aber das ist nur eine Möglichkeit. Aber man soll das ein bisschen relativieren. Ich glaube, Jesus hat nie ein Buch geschrieben und nie eine Kirche gestiftet. Für mich ist das Zentrum von Glauben: Jesus war eine Gegenbewegung, also er war nicht konformistisch. Diese Gegenbewegung geht nicht über ein Buch, das geht nicht darüber, wer die Institution leiten soll. Und das alles organisiert. Das Institut Kirche ist nicht das Heilige einer Glaubensgemeinschaft“.
Heilig ist hingegen den Remonstranten das Gespräch, der Dialog, die Lernbereitschaft. Darum fördern sie in ihren eigenen Reihen das Interesse an anderen Religionen, erklärt der Remonstrant und Philosoph Wibren van der Burg:
„Wir sind davon bereichert worden, dass wir immer Leute von anderen Religionen innerhalb unserer Kirche haben. Und zum Beispiel gibt es auch Leute, die bei uns interessiert sind am Zenbuddhismus und Islam. Und auch Elemente davon mitnehmen. Zum Beispiel gibt es auch Leute bei uns, die jetzt den Ramadan mitfeiern. Sie lassen sich davon inspirieren, und sagen: Ja, das will ich auch mitmachen“.
Immer mehr Menschen interessieren sich für diese christlichen Freigeister. Viele tausend diskutieren auf der website dieser progressiven Kirche, eine erstaunliche Entwicklung, berichtet Pastor Tom Mikkers:
„Das Internet gibt uns die Möglichkeit, die Leute zu interessieren für die Remonstranten. Im letzten Jahr hat es Leute aus dem Ausland gegeben, die auch die Frage stellen: Können wir Remonstrant werden? Und dann sagen wir immer: Das ist möglich. Wenn Sie noch zehn oder fünf andere finden, dann kann so eine Gruppe beginnen. Und dann werden wir dazu helfen. Wir sagen immer. Paulus hatte ein Boot, und wir haben das Internet“.
Auch wenn die Remonstranten Kirche nie eine Massenbewegung sein wird: Die Stimme einer freien, demokratischen Kirche ohne Dogmen wird das ökumenische Gespräch weiterhin bereichern …und provozieren.